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Audiowalk "and let no one be forgotten"

Odesaplatz

Foto: Katya Romanova

Tourstop 2

Odesaplatz

Das Sperrgebiet

Ort: Odesaplatz

Wir befinden uns jetzt am Odesaplatz. Der bisher namenlose Platz wurde am 16. August 2022 auf Initiative des Bezirksamtes nach der ukrainischen Stadt Odesa benannt.

Das Sperrgebiet

Ort: Odesaplatz

CARO:

Woran denkst du gerade?

MARIANNE:

Die Gebäude haben sich gar nicht so sehr verändert. Ich fühle mich ein bisschen wie in einem Traum. Es sieht gleich aus, aber irgendwie auch ganz anders.

CARO:

Erzähl mir mehr über diese Gegend. Wie sieht es zum Beispiel mit den Geschäften aus? Wie hast du eingekauft? Gab es spezielle Geschäfte oder etwas mit Lebensmittelkarten?

MARIANNE:

Nein! So alt bin ich nicht. Die Lebensmittelkarten wurden nicht mehr verwendet, aber es gab immer einen besonderen Ort, an dem man etwas abholen konnte. Damals, Anfang der 60er Jahre, waren die Dinge noch nicht so reichlich vorhanden. So war das in der DDR: Auch wenn es keine Lebensmittelkarten mehr gab, gab es immer noch einen Laden, bei dem man angemeldet war oder so etwas in der Art.

Hier gab es sogar mal einen russischen Laden - das Magazin. Damals war die Versorgungslage nicht so toll. Aber im das Magazin gab es das, was die Leute wirklich wollten: Schweizer Käse, Fisch, Butter - BUTTER! Das war wie ein Zauberwort. Natürlich konnte man nicht einfach Butter kaufen, wann immer man wollte. Man durfte nur eine bestimmte Menge Butter pro Monat kaufen. Die konnte man sich im Laden holen, und sie machten einen Vermerk im Hauptbuch. Ich erinnere mich noch, dass sie manchmal sagten: „Du kannst zwei Stücke mehr haben“, weil jemand anderes seinen Anteil nicht abgeholt hatte.

CARO:

Wie war es, im das Magazin einzukaufen? Konnten sie Deutsch sprechen?

MARIANNE:

Sie haben auf jeden Fall Deutsch verstanden, es war also nicht kompliziert, zu sagen, was man wollte. Es war nicht so, dass man Kleider anprobieren konnte oder so etwas; es war normalerweise klar - heute gab es Bananen oder vielleicht etwas Fleisch. Und sie mussten genug Nachschub bekommen haben, sodass die Offiziere nicht gleich alles leer kauften; Sonst hätten sie uns nichts verkauft.

 

Aber das wurde mit der Zeit immer besser. Dann ging es um andere Dinge, wie Haushaltsgeräte. Die musste man sich organisieren oder Ausschau halten, wenn etwas erhältlich war. Es war so: Wenn irgendwo eine Schlange war, wusste man, dass es etwas gab, und man wollte es vielleicht ausprobieren. Man stellte sich an, und vielleicht konnte man ein paar Bananen oder so kaufen. Das klingt heute ein bisschen verrückt, aber so war es damals.

(Pause) Schau, hier war der Zaun.

CARO:

Für das Sperrgebiet?

MARIANNE:

Ja. Es gab Tore im Zaun für Fußgänger. Entschuldigung - oder muss ich Fußgänger*innen sagen? Naja, die Leute, die dort wohnten, mussten jedes Mal einen Ausweis vorzeigen.

CARO:

Du bist also nie in das Sperrgebiet hineingegangen?

MARIANNE:

Oh, das habe ich nicht gesagt!

CARO:

Du hast dich reingeschlichen?

MARIANNE:

Nicht wirklich, sie haben uns Kinder immer reingelassen. Ich hatte eine Freundin, die im Sperrgebiet wohnte. In der Rheinsteinstraße.

CARO:

Ich dachte, dort durften nur Russen wohnen?

MARIANNE:

Es gab Ausnahmen. Normalerweise, ja, das war die Regel. Die Familie meiner Freundin war antifaschistisch, und deshalb durften sie dort wohnen. Die Familie hat das Haus und den Garten nach 1945 bekommen. Wir haben immer in diesem Garten gespielt. Und die Soldaten haben mich immer ohne Passierschein reingelassen. Sie kannten natürlich meine Freundin, weil sie jeden Tag zur Schule ging, und ich glaube, sie hatten nichts gegen Kinder, wir waren ja noch klein. Also spielten wir in ihrem Garten. Ich erinnere mich, dass sie diesen schönen, großen Weidenbaum hatten, an dem eine Schaukel befestigt war.

CARO:

Was ist mit deinen Eltern? Durften sie reinkommen?

MARIANNE:

Nein, niemals.

CARO:

Die Kinder hatten also den ganzen Laden für sich allein?

MARIANNE:

Nicht ganz. Aber wir hatten auf jeden Fall mehr Freiheit. Wir sind hier auch immer in den Park gegangen. Dort habe ich meinen ersten Kuss bekommen.

CARO:

Was?? Von wem?

MARIANNE:

Sacha Kazakov. Er war ein russischer Junge.

CARO:

Ohhh, ein russischer Liebhaber.

MARIANNE:

Meine erste Liebe! Wir sind immer von einem Ende des Parks zum anderen gerannt. Ich war eine gute Läuferin, weißt du. Aber er war schneller. Es gab nichts Besseres als den Adrenalinstoß, den wir beim Sprinten zwischen den Bäumen bekamen. Eines Tages, als ich ihn einholte, völlig außer Atem, packte er mich an beiden Armen und zog mich mit großer Kraft in einen Kuss.

CARO:

(Caro lacht) Das klingt schweißtreibend Oma.

MARIANNE:

Er hat mich völlig unvorbereitet erwischt. Das mochte ich so an ihm. Es war schwer, mich zu überraschen, aber er hat es immer geschafft. Vielleicht lag es daran, dass wir so unterschiedlich waren.

CARO:

Ich dachte, es hätte keine Vermischung gegeben.

MARIANNE:

Nein, das gab es nicht. Es wurde viel von deutsch-sowjetischer Freundschaft geredet, aber die gab es nicht wirklich. Nicht in der Praxis. Aber wir haben sie zur Praxis gemacht.

Ich habe ihn nur durch meine Freundin kennengelernt, die dort lebte. Wir waren im Park, und er marschierte direkt auf uns zu und sagte mir, er fände mich sehr hübsch.

CARO:

So mutig.

MARIANNE:

Ich fand es toll. Ich fand ihn so interessant. Sein ganzes Leben und seine Kultur waren für mich ein völliges Rätsel. Er erschien mir wie ein Abenteuer.

CARO:

Und, natürlich, die verbotene Liebe.

MARIANNE:

Ja, ich glaube, wir hielten uns für unbesiegbar. Wir haben sogar die Soldaten um Zigaretten gebeten. Rebellen ohne Grund!

CARO:

Das habe ich alles nicht gewusst.

MARIANNE:

Er wohnte in einem der Häuser aus dem Artikel.

CARO:

Wirklich? Warst du jemals drin?

MARIANNE:

Ja, ein paar Mal. Es war nicht leicht. Aber ich wollte sehen, woher er kam. Wir trafen uns im Park und schlichen uns durch die Hintertür hinein. Er rannte nach oben und sah nach, ob niemand zu Hause war, bevor er mich abholte.

CARO:

Stell dir vor, ihr wäret erwischt worden.

MARIANNE:

Ja, das war sehr leichtsinnig. Wir waren nicht SO jung, weißt du. Wenn wir erwischt worden wären, hätte das Konsequenzen gehabt. Vor allem für ihn, denke ich.

CARO:

(schwer ausatmen) Wie hart muss es gewesen sein, mit der ständigen Angst zu leben, die Regeln zu

brechen und bestraft zu werden…

MARIANNE:

Sei nicht so dramatisch. So war es nicht. Ja, es gab eine Bedrohung, aber nicht wirklich. Jeder kannte die Regeln und konnte einschätzen, wie ernst sie genommen werden mussten.

CARO:

Das hört sich an, als wolltest du das System zu Fall bringen.

MARIANNE:

Ich war nie so politisch. Ich wollte nicht so herausstechen.

CARO:

Aber Mama hat mir erzählt, dass du einmal Ärger bekommen hast, weil du einen Club gegründet hast.

MARIANNE:

Oh! (Sie lacht) Na ja, das war nur dummes Kinderzeug. In einer kleinen Gruppe in der Schule haben wir uns über das Westfernsehen informiert und hatten unsere eigenen Ideen und Pläne.

CARO:

Ich dachte, man durfte kein Westfernsehen sehen.

MARIANNE:

Es war verboten, ja. Es gab eine Zeit, in der man die Leute daran erkannte, wie ihre Antennen ausgerichtet waren - man konnte erkennen, wer Westfernsehen schaute. Ich erinnere mich, dass ich bei Freunden war und nach der Schule Westfernsehen gesehen habe. Das wurde irgendwie der Parteiführung gemeldet, in der ihr Vater arbeitete, und daraufhin wurde er bestraft und bekam eine Gehaltskürzung.

CARO:

Hat euch das auf die Idee für den Club gebracht?

MARIANNE:

Nein, ich weiß nicht mehr, wer diese Idee zuerst hatte. Es gab eine Kerngruppe von uns, vielleicht vier oder fünf Leute. Aber manchmal waren wir auch mehr, und irgendwann waren wir 13. Dann schlug jemand vor, wir sollten ihn Club 13 nennen.

Es war ein Riesenspaß. Wir gingen einfach ins Kino oder hingen auf der Straße herum, manchmal gingen wir auch ins Schwimmbad. Zu dieser Zeit waren Buttons der letzte Schrei in der Schule. Wir kamen also alle mit diesen Buttons, auf denen 'Club 13' stand. Die Lehrerin ist ausgeflippt, und dann war die Hölle los. „Was ist das? Das sind offensichtlich staatsfeindliche Verschwörungen.“

Sie haben uns dafür wirklich die Leviten gelesen. Die Buttons wurden schnell abgenommen und weggeräumt. Wir mussten einen Eid schwören, dass wir nie wieder auf so dumme Ideen kommen würden. Club 13 ... das waren nur wir, die versuchten, ‘cool’ zu sein.

CARO:

Du hast Glück, dass sie dir nur die Buttons weggenommen haben.

MARIANNE:

Oh, wir wurden auch verhört. Aber ich denke, es war offensichtlich, dass wir nur ein Haufen Niemande waren und alles nur ein Witz war. Und eine unserer Freundinnen - ein Mädchen, das in der selben Straße wohnte, wie ich - hatte einen Vater bei der Stasi.

CARO:

Wie war es, in ihrer Nähe zu sein? Hattest du Angst?

MARIANNE:

Nein, es war in Ordnung. Es war nie ein wirkliches Problem. Wir waren nur ein bisschen vorsichtiger. Wenn sie in der Nähe war, haben wir einfach vermieden, über bestimmte Themen zu sprechen. In dieser Hinsicht war es also ziemlich unkompliziert. Aber ich bin sicher, dass sich ihr Vater einmischte, als wir mit dem Club 13 erwischt wurden. Wahrscheinlich haben wir es ihm zu verdanken, dass er etwas sagte wie: „Nein, die sind harmlos, das ist alles Unsinn.“ Wir waren in einem Alter, in dem man uns ehrlich gesagt auch irgendwo hätte einbuchten können. Hätten wir irgendetwas Ernstes gemacht oder angefangen, hätten wir richtig Ärger bekommen.

CARO:

Ich muss sagen, ich bin ein bisschen überrascht. Ich dachte, du würdest dich an die Russen als eine Art unterdrückende Macht oder so erinnern. Du scheinst das alles sehr locker zu sehen.

MARIANNE:

Es ist schwer zu erklären, aber das war normal für mich. Erst im Nachhinein kann ich erkennen, wie sehr es unser Leben beeinflusst hat. Der Mangel an Freiheit. Weißt du…Sie haben uns auf der Straße angehalten und nach dem Ausweis gefragt.

CARO:

Ja, ich dachte auch, sie würden die Leute einfach von der Straße holen, wenn sie keine Papiere dabei hätten. Ich bin mir sicher, dass ich einmal gelesen habe, dass die russischen Wachen, wenn sie bemerkten, dass die Anzahl der Gefangenen nicht mehr stimmte, weil einer geflohen, erschossen oder zu Tode geprügelt worden war, einfach jemanden von der Straße holten, der zufällig in der Nähe war.

MARIANNE:

Das ist wahrscheinlich passiert, aber das war nicht meine Erfahrung. Du musst verstehen, dass sie vorher unsere Befreier waren, weißt du? Zumindest hat man uns das so beigebracht. Am Ende des Krieges hatten alle so viel Angst vor diesen 'Sowjets', und dann kamen sie mit Blumen auf ihren Panzern an.

Deine Urgroßeltern haben mir eine wohlwollende Sichtweise vermittelt.

CARO:

Ok, aber sieh dir die Immobilien an, die sie weggenommen haben... die Leute müssen schon damals Probleme gehabt haben, eine Wohnung zu finden. Es muss doch unglaublich frustrierend gewesen sein, dass all dieser Platz, all diese Häuser und Villen, von den Russen besetzt wurden.

MARIANNE:

Ja, das ist wohl wahr, aber irgendwo mussten sie ja auch wohnen, oder?

CARO:

Ich glaube, du schenkst ihnen zu viel Anerkennung. Es ist ja nicht so, dass sie nicht wussten, woran sie beteiligt waren. Sie waren bereitwillige Teilnehmende.

MARIANNE:

(Sie seufzt frustriert) Du siehst die Dinge zu wörtlich. Die Welt ist nicht schwarz und weiß. Und viele der hier lebenden Russen waren Familien, die ihr Bestes taten, um über die Runden zu kommen. Wir mussten alle in diesen sehr komplizierten Systemen existieren.

CARO:

Ja,ichweiß. Ich verstehe, dass nicht alle bereit waren oder wie auch immer. Es ist kompliziert, denke ich.

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